Wenn wir von Führung sprechen, meinen wir häufig einen nach außen gerichteten Prozess, der Menschen in einer gezielten Art zum Handeln anleitet. Selbstführung wird häufig ausgespart, gehört allerdings zu Führung dazu. Es ist die nach innen gerichtete Führung, also wie wir uns selbst führen. Es ist innere Führung. Diese in der öffentlichen Wahrnehmung eher neuere und umfassendere Sicht betrachtet den Führungsprozess ganzheitlicher und systemischer.
Selbstführung ermöglicht eine bewusste Steuerung eigenen Denkens, Fühlens, Handelns und der persönlichen Entwicklung. Anders ausgedrückt, umfasst es u.a. die Fragen, wie wir mit uns selbst sprechen (sog. Innerer Dialog), welche mentale Hygiene wir praktizieren und welche Prinzipien, Werte, Motive wir unseren Handlungen zugrunde legen.
Der Begriff der Selbstführung wurde nicht von einer Person „erfunden“ oder diese Führung „entdeckt“. Die Idee der Selbstführung ist aus verschiedenen Bereichen entwickelt worden. Theorien der Führungslehren, insbesondere die Ideen der situativen oder transformativen Führung, psychologische Forschung zu Motivation, Empowerment oder Selbstmanagement und insbesondere die Forschungen der Positiven Psychologie seit den 90er Jahren haben den Begriff und das Konzept beeinflusst. In der Praxis ist es vor allem ein Thema in Coaching und Führungskräfteentwicklung.
Sicher, wie es mit Coaching als einem eher jungen Begriff auch der Fall ist, waren seit der Antike, Ideen zur Selbstführung bekannt und praktiziert. Vor allem die Philosophen lehrten „Selbstsorge“, wie Michel Foucault die antike Selbstführungspraxis umschrieb. Selbstführung ist in fernöstlichen Philosophien ebenfalls schon lange in Anwendung.
„Der Weg zur Führung führt durch die Führung von sich selbst.“
– Peter F. Drucker
Bestandteile der Selbstführung – eine Auswahl
#1 Selbstbewusstsein – Standortbestimmung
Selbstführung beginnt mit Selbstbewusstsein – der Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und zu verstehen. Schon das antike Delphi-Orakel riet: „Erkenne dich selbst.“ Dieses Prinzip bildet die Grundlage für eine bewusste Lebensgestaltung. Nur was überhaupt bewusst ist, kann auch bewusst gesteuert werden. Es ist eine Frage der Abhängigkeit oder was uns führt, statt dass wir es selbst tun.
#2 Zielsetzung – ohne Ziel stimmt jede Richtung
„Wer nach den Sternen greift, wird vielleicht nicht jeden erreichen, aber seine Hände werden nicht leer bleiben.“ – Unbekannt
Effektive Selbstführung erfordert klare Ziele. Also: Was genau machen wir jetzt mit all unseren reflektierten Erkenntnissen? Sie dienen keinem Selbstzweck. Häufig schrecken Menschen davor zurück, sich tiefgründig im privaten oder beruflichen Verhalten zu reflektieren. Denn dann wird es mitunter nicht nur angenehm. Vielmehr folgt jetzt aber die eigentliche Arbeit: die Veränderungen angehen. Dafür braucht es zunächst Ziele, die eine Richtung hin zu etwas einleiten. Die bekannte SMART-Methode hilft dabei, ein Ziel greifbar zu machen. Gleichzeitig legt es den Grundstein für Überprüfbarkeit auf dem Weg.
Langfristige Zielvisionen werden darüber hinaus aber auch mit Visualisieren, Fühlen und ganzheitlichem Erleben wirksam. Kurzfristige Ziele im SMART- Stil helfen also als erste kleine Schritte oder Zwischenziele eine langfristige Ziel-Vision zu erreichen. Am Ende muss letztere aber nicht zwingend erfüllt sein: Ziele geben dem Handeln eine Richtung und bedingen, dass wir uns gehörig entwickeln müssen, diese auch zu erreichen.
#3 Selbstmotivation – eine „Frage des Charakters“
Was treibt mich an, wenn keiner hinsieht? Das ist vielleicht eine Frage des Charakters, der eigenen Werte und Motive, die einen von innen antreiben. Selbstmotivation braucht daher keine externe Bestätigung oder Anreize; keine reine Disziplin, sich gegen harte Bedingungen durchzusetzen. Echte Motivation braucht keine externe Validierung. Sie entsteht aus intrinsischen Motiven (wie Sinnhaftigkeit) und beeinflusst maßgeblich unser Handeln.
#4 Zeitmanagement – weil wir nicht ewig leben
Ein effektives Zeitmanagement unterscheidet zwischen wichtigen und aufdrängenden Aufgaben. Es hilft, echte Prioritäten zu setzen und langfristige Ziele nicht kurzfristigen Impulsen zu opfern. Im beruflichen Alltag erleben wir häufig, dass unsere einzige echte Ressource Zeit, weil wirklich endlich, von außen genommen wird: Terminkalender, deren Inhalt von anderen mit endlosen Meetings gefüllt werden. Die Kontrolle über die eigene Zeit zurückzuerlangen und was wir bewusst damit anfangen, ist ein wichtiger Baustein zur eigenen Selbstführung.
#5 Selbstdisziplin – Langfristigkeit vor Kurzsichtigkeit
Selbstdisziplin reflektiert unser Verhältnis zu uns selbst. Die Fähigkeit, kurzfristige Versuchungen zugunsten langfristiger Ziele zu überwinden, ist ein Zeichen von Selbstachtung und hoher Zeitpräferenz. Anders herum: Eigens gesteckte Ziele kurzfristiger Bequemlichkeit zu opfern, sagt viel über das Verhältnis zu uns selbst aus.
#6 Reflexion und Anpassung – kompetent werden
Selbstführung erfordert kontinuierliche Reflexion und Anpassung. Ein „Reflektions-Burnout“ kann vermieden werden, indem Reflexionsprozesse gezielt gesteuert und in den Alltag integriert werden. Es kommt nicht darauf an, nur um seiner selbst Willen zu reflektieren. Es kommt auf das an, was wir daraus machen. Potential ohne Entfaltung ist vergeudet.
#7 Emotionale Intelligenz – sinnlose Konflikte vorbeugen
„Die eigene Dunkelheit zu kennen, ist die beste Methode, um mit Schattenseiten anderer Menschen umzugehen.“
– C. G. Jung
Emotionale Intelligenz spielt eine zentrale Rolle in der Selbstführung. Sie ermöglicht es, eigene Emotionen zu regulieren und soziale Beziehungen effektiv zu gestalten. Wir interagieren mit unserer Umwelt und diese mit uns. Wer die eigenen Emotionen wahrnehmen, verstehen und lenken kann, läuft nicht Gefahr der vielfachen Emotionen der Außenwelt zu erliegen. Diese systemische Sicht ermöglicht ein Erkennen und Anerkennen von Bedürfnissen und deren Äußerungen, zugunsten affektiven Handelns.
Selbstführung bewirkt mehr Klarheit und weniger Überforderung
Das Selbst in Führung zu bringen und die Kunst der Selbstführung zu praktizieren ermächtigt Menschen, gegen eine Vielzahl von typischen Hemmnissen anzukommen:
- Prokrastination,
- tief empfundene Sinnlosigkeit (ob reflektiert oder latent), sinnentleertes Handeln, also das tun, „was sich halt so ergeben hat“, was andere einem auf den Weg gelegt haben, statt die eigene Wege-Karte zu zeichnen, was wiederum zu
- Mittelmäßigkeit führt
- Burn-out/ Boreout
- Selbstzweifel (stärkste mentale destruktive Kraft?)
- Überwältigung (Opfer der Umstände – oder ist es was wir daraus machen?)
- Fehlende Klarheit über Ziele/ Visionen (Was will ich eigentlich?)
- Emotionale Belastungen
- Widerstand gegen Veränderungen (starr, nicht flexibel, „alt“) Und wer nicht mit der Zeit geht, muss bekanntlich mit der Zeit gehen)
- Mangel an Unterstützungsbereitschaft: Sich helfen zu lassen, wird oft als Zeichen von Schwäche wahrgenommen. Vielmehr ist es eine Frage der Professionalität. Im Business-Kontext eine strategische „Make or buy decision“ (Was ist meine Kernkompetenz und was nicht?). Es geht um die Mission oder Vision, die verfolgt wird. Alles andere ist falscher Stolz.
- Unfähigkeit der konstruktiven Selbstreflexion: In jedem belastbaren Führungsprozess findet eine Lageauswertung/ Kontrolle und spätere Anpassung statt, weshalb also nicht im inneren Führungsprozess?
Selbstführung: Schlüssel zur persönlichen Entwicklung
Die folgenden Dimensionen der Selbstführung ermöglichen es Individuen, kurzfristige Handlungsfähigkeit als auch die langfristige persönliche Entwicklung und Zielerreichung umzusetzen, sprich ihre innere Führung zu realisieren.
- Fokus auf langfristiger Perspektive: strategisch vor kurzfristig, Prinzipien treu bleiben vs. Impuls nachgeben
- Selbstmanagement fokussiert sich primär auf Effizienz und Organisation eigenen Handelns. Nicht zur Selbstausbeutung, sondern zu bewussten statt automatischen Handlungen und eigener Zielerreichung. Es umfasst Techniken zum Zeitmanagement, Zielsetzung, Planung und Selbstdisziplin. Das Ziel ist es, produktiver zu sein und Aufgaben strukturiert zu bewältigen. Oder anders gesagt: Selbstmanagement hilft, Dinge effizient zu erledigen, während Selbstführung gesamt sicherstellt, dass man die richtigen (stimmigen) Dinge tut.
- Adaptabilität fokussiert die Fähigkeit, innerhalb sich verändernder äußerer Rahmenbedingungen sich nicht selbst zu verlieren. Es geht um bewegliche Anpassungsfähigkeit, ohne sich zu sehr zu assimilieren.
- Kreativität und Problemlösung: Prinzipien zu haben und sich diese entsprechend stets ändernder äußerer Bedingungen zu bewahren, erfordert schlicht Kreativität und Problemlösungskompetenz, wie wir es aus der äußeren Führung kennen.
- Stressbewältigung fokussiert Techniken, die spielerisch in den Alltag integriert und ständig/überall trainiert werden können, wie es bspw. die Atmung vermag. Wir stärken damit unsere Resilienz.
- Verantwortung für sich und das eigene Denken, Fühlen, Handeln übernehmen ist, so abstrakt wie es sich anhören mag, keine Selbstverständlichkeit. Ein Nicht-Abgeben eigener Mündigkeit, wie es bereits Immanuel Kant formulierte, ist zentraler, wenn auch oft harter Schritt zur Selbstführung. Heute würden wir es vermutlich moderner als ownership bezeichnen. Oder anders:
„[Wir sind] nicht das, was [uns] passiert ist. [Wir sind] das, was [wir entscheiden] zu werden.“ (C. G. Jung)
- Zielüberprüfung und Anpassung als Kreislauf, der auch in gängigen Führungsprozessen (bspw. PDCA-Zyklus) der äußeren Führung Anwendung findet
- Lernbereitschaft und der Mut zur tatsächlichen Veränderung (Tat) sind dabei Voraussetzung zur Entwicklung von Selbstführung. Wer den Status quo nicht verändern will, stagniert. Wer stagniert, „der rostet“, wird starr und gräbt der eigenen Adaptabilität direkt das Wasser ab.
Fazit
„Die beste Investition, die du tätigen kannst, ist die Investition in dich selbst.“
– Warren Buffet
Selbstführung ist ein dynamischer und fortlaufender Prozess, der ständige Reflexion und Anpassung erfordert. Sie bildet einen zentralen Bestandteil der persönlichen Entwicklung und ermöglicht es uns, unser Leben bewusst zu gestalten. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Selbstführung eng mit Selbstwirksamkeit, emotionaler Intelligenz und langfristigem Erfolg verbunden ist.
Selbstführung ist ein lebenslanger Prozess. Sie ermöglicht es, das eigene Leben aktiv zu gestalten und persönliche sowie berufliche Ziele zu erreichen und in letzter Konsequenz Selbstwirksamkeit in allen Handlungen zu erfahren – wirklich authentisch zu sein.
Wer tiefer einsteigen will in seine eigene, die innere Führung, für den ist Coaching ein geeignetes Verfahren der Weiterentwicklung, sei es beruflich oder privat. Letztlich lassen sie sich diese beiden Bereiche in einer wirklich umfassenden Entwicklung nicht voneinander trennen. Nur wer genau hinschaut, und sich selbst führen kann, kann auch in der äußeren Führung klar werden.
Quellen
- Balz; Heisig: Selbstführung und Selbstfürsorge – Leitbegriffe im Führungskräfte-Coaching? In: Organisationsberatung, Supervision, Coaching. 2022.
- Gabl: Selbstführung in Krisenzeiten: Wie sich Selbstführung auf die Leistung und das mentale Wohlbefinden von Führungskräften auswirkt. 2022.
- Grün; Jansen: Stark in stürmischen Zeiten. 2017.
- Furthner; Baldegger: Self-Leadership und Führung. Theorien, Modelle und praktische Umsetzung. 2023.
- ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften: IAP Studie. Selbstführung in selbstorganisierten Arbeitskontexten. 2020