„Stress, sowas kenne ich nicht!“, sagt er, zieht an der Zigarette und nimmt einen Schluck aus der 10. Tasse Kaffee… Ein weiterverbreitetes Phänomen bei Einsatzkräften. In Führungskreisen wird wenig schlafen oder Mahlzeiten ausfallen lassen, weil „so viel zu tun ist“, mitunter regelrecht zelebriert. Wer ist der oder die Härteste?
Stress betrifft Menschen, unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit oder Stärke. Viele hochleistungsfähige Individuen sind anfällig für Stress und dessen Folgen. Vielleicht sogar umso mehr. Wer aber viel be-lastet, muss auch entsprechend gezielt ent-lasten, wie die Trainingslehre weiß. Das Gegenteil ist allerdings im Alltag der Fall. In der heutigen schnelllebigen und verdichteten Arbeitswelt sind Führungskräfte und Einsatzkräfte regelmäßig einem hohen Stressniveau ausgesetzt. Die Aussage „Stress ist etwas für Leistungsschwache!“ ist nicht nur irreführend, sondern auch gefährlich, da sie die Notwendigkeit eines effektiven Stressmanagements in den Hintergrund drängt. Stress ist ein biologischer und psychologischer Zustand, der in vielen Fällen unvermeidlich ist. Er kann sowohl negative als auch positive Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit haben. Nach einer Studie von Hakanen et al. (2006) wird Stress als ein zweischneidiges Schwert betrachtet, das sowohl als Belastung als auch als Anreiz fungieren kann. Diese duale Sichtweise auf Stress ist entscheidend für das Verständnis, wie Führungskräfte und Einsatzkräfte mit Stress umgehen sollten. Es ist nicht der Stress selbst, der schädlich ist, sondern die Art und Weise, wie Individuen ihn wahrnehmen und darauf reagieren.
Also doch wieder eine Frage der Selbstführung?
Ein Modell im Bereich des Stressmanagements ist das transaktionale Stressmodell (Folkmann; Lazarus, 1984). Es beschreibt Stress als ein Produkt der Wechselwirkung zwischen einem Individuum und seiner Umwelt. Dabei spielen die kognitive Bewertung der Stressoren und die verfügbaren Bewältigungsmechanismen eine zentrale Rolle. Führungskräfte und Einsatzkräfte, die in der Lage sind, stressige Situationen richtig zu bewerten und geeignete Bewältigungsstrategien anzuwenden, können nicht nur ihre eigene Leistung optimieren, sondern wirken auch stärkend auf Ihre Umwelt.
Meine Erfahrungen aus Einsatzverband und als Führungskräfteentwickler: es reicht eben nicht aus, ein paar theoretische Folien zu „Stress“ zu präsentieren. Es reicht auch nicht, wenngleich besser (weil kompetenzorientiert), Anwärter auf Führungs- und Einsatzberufe Stress erleben zu lassen. Noch wirkungsvoller wäre es, die konkreten Mechanismen zu erklären und Stress-Bewältigungsstrategien in der Praxis üben zu lassen. Wenn es Normalität geworden ist, überträgt es sich auch auf den Rest der Organisation. Das habe ich jedenfalls in ausgewählten Bereichen aus Militär, Sport, Luftfahrt und Medizin kennenlernen dürfen.
Moderne Faktoren für Disstress
In der modernen Welt sind zahlreiche Faktoren für negativen Stress (Disstress) verantwortlich, die sich von denen früherer Zeiten unterscheiden. Zu den Hauptursachen gehören:
- Technologische Überlastung: Die ständige Erreichbarkeit durch Smartphones und E-Mails führt zu einem Gefühl der Überwältigung. Die Nutzung mobiler Technologien erhöht die Stresswahrnehmung (M. A. Derks et al. (2014)
- Hohe Leistungsanforderungen: Der Druck, ständig Höchstleistungen zu erbringen, ist in vielen Branchen gestiegen. Oft wird Stress aufgrund hoher Erwartungen und Arbeitsbelastungen noch erhöht (Gallup-Umfrage, 2020)
- Soziale Isolation: Die zunehmende Nutzung von „sozialen Medien“ kann paradoxerweise zu sozialer Isolation führen, was Stress und Angst verstärkt. Die intensive Nutzung „sozialer Medien“ ist verbunden mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für Depressionen und Stress (Primack et al. 2017). Aber auch eine Entfremdung zu Menschen außerhalb des Einsatzdienstes verstärkt dieses Risiko.
- Unzureichende Work-Life-Balance: Eine schlechte Work-Life-Balance korreliert mit erhöhtem Stress und gesundheitlichen Problemen (Kahn et al. 2019). Vielmehr könnte es eine Frage der Work-Life-Integration sein: Wie sehr passt Ihr Beruf eigentlich in Ihr Leben und umgekehrt?
Als Coach habe ich darüber hinaus festgestellt, dass zu den äußeren Rahmenbedingungen eine Vielzahl an eigenen und projizierten Erwartungen hinzukommen, die, wenn sie nicht reflektiert und „behandelt“ werden, mit den äußeren Umständen eine erdrückende Symbiose eingehen können.
Folgen von Stress, nicht nur für „Leistungsschwache“
Psychische Belastungen sind längst kein Randthema mehr. Laut dem Statistischen Bundesamt ist jeder vierte Arbeitnehmer in Deutschland von psychischen Erkrankungen betroffen. Häufige Ursachen sind: Stress und Burnout. Das hat Folgen:
- Erhöhte Fehlzeiten
- Produktivitätsverluste
- Leistungsabfall – insbesondere bei chronischem Stress
In Einsatzberufen kommen zusätzliche Stressoren hinzu:
Schichtdienst, hohe körperliche und emotionale Anforderungen, permanente Einsatzbereitschaft.
Wie sich chronischer Stress bemerkbar macht
Führungskräfte, besonders in belastungsintensiven Berufen, zeigen oft eine Mischung aus emotionalen, körperlichen, kognitiven und verhaltensbezogenen Stress-Symptomen:
Typische Anzeichen sind:
- Nervosität, Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen
- Schlafstörungen, Verdauungsprobleme
- Konzentrationsprobleme, Entscheidungsschwierigkeiten
- Pessimismus und negatives Denken
- Rückgriff auf Alkohol, Aufputschmittel oder Medikamente
Besonders kritisch: die kognitiven Folgen von Dauerstress:
- Geringere Aufmerksamkeitskontrolle
- Schwächung des Arbeitsgedächtnisses
- Schwierigkeiten bei Informationsverarbeitung und Problemlösung
- Höhere Fehlerquote, sinkende Produktivität
(De Dreu et al., 2008; Le Fevre et al., 2003; Gallup, 2021)
Negatives Denken, der unterschätzte Verstärker
Gestresste Menschen neigen zu negativem Denken. Was harmlos klingen mag, kann einen gefährlichen Kreislauf auslösen:
- Negatives Denken → mehr Stress
- Mehr Stress → noch mehr negative Gedanken
- Und so weiter: ein echter Teufelskreis
(Nolen-Hoeksema, 2001)
Pessimistische Personen erleben Stress oft als überwältigend und unkontrollierbar, was ihre Bewältigungsstrategien schwächt. Doch es gibt Hoffnung:
Studien zur kognitiven Verhaltenstherapie (CBT) zeigen, dass die gezielte Umstellung auf positivere Denkmuster zu messbaren Verbesserungen führen kann.
(Hofmann et al., 2012)
Konkrete proaktive Handlungsschritte…
…bevor nur noch Arzt oder Therapeut helfen können!
Dass Resilienz nicht nur etwas für Individuen ist, sondern immer im System betrachtet werden sollte, wissen wir aus anderen Artikeln. Doch auch hier lässt sich wiederholen: Wer früh genug anfängt, kann Resilienz erschaffen, bevor sie gebraucht wird. So verhält es sich gewissermaßen auch mit Stress: Wir können oftmals die Umstände nicht beeinflussen. Wir können aber sehr gut beeinflussen, wie wir damit umgehen, wenn wir es gelernt haben. Es ist das, was Sie als Mensch daraus machen (s.o. kognitive Bewertung) und ob Sie gelernt haben, mit den Umständen zurechtzukommen (s.o. verfügbare Bewältigungsmechanismen). Auch dies ist eine Kompetenz der Profis! Neben zahlreichen anderen Schritten, die in Ihrer Hand liegen, können die folgenden ergänzend für Sie und Ihr Team sein:
- Bewusste Technologie-Nutzung: Nützt die genutzte Technologie, oder hält sie auf? Sind Ablenkung oder Nutzung gerade dahinterliegender Zweck? Feste Zeiten für digitale Auszeiten helfen, um sich übermäßigen Datenmengen bewusst zu entziehen.
- Klare Kommunikationsstrukturen im Team schaffen, um Missverständnisse zu vermeiden und Erwartungen zu klären (Rollen und Erwartungen) .
- Regelmäßige Pausen in den Arbeitsalltag integrieren, um Überlastung zu verhindern. Die Pomodoro-Technik (25 Minuten Arbeiten, 5 Minuten Pause) kann hier hilfreich sein.
- Aufbau sozialer Unterstützung: Ein starkes soziales Netzwerk aufbauen, um emotionale Unterstützung zu erhalten und soziale Isolation zu vermeiden.
- Richtige Prioritäten: Zeitmanagement-Tools wie die Eisenhower-Matrix einsetzen, um Aufgaben nach Dringlichkeit und Wichtigkeit zu priorisieren und Überwältigung zu reduzieren. Was ist wirklich wichtig, was frisst Kapazität oder lenkt vom Wesentlichen ab? So kann auch wieder die Kontrolle über den eigenen Terminkalender erlangt werden.
- Aufbau einer konstruktiven Feedback-Kultur: Einsätze/ Aufträge/ Projekte individuell und als Team mit einer positiven und lernbereiten Haltung auswerten. Dies fördert Reflexionsfähigkeit. Und nur was bewusst ist, kann zum Gewünschten verändert werden. Nutzen Sie dazu bspw. die Tagesroutine aus dem Downloadbereich.
- Aufbau dynamischer Routinen zur Stressreduktion: kurze, hochfrequente Routinen, die langfristig stärken, aber kurzfristig fast nichts kosten an Zeit (z.B. Pause, Atem-Arbeit, aktive Pausen, Time boxing etc.).
- „Positive“ Sprache statt Pessimismus und Negativität: Denken Sie an die Abwärtstendenz, die Sprache und Verhalten auf Menschen hat und wie dieser Effekt bewusst ersetzt werden kann.
Fazit
Die Ursachen für Stress sind in unserer modernen Welt vielfältig und oft eng miteinander verknüpft. Die Behauptung, Stress sei ein Zeichen von Schwäche, ist nicht nur falsch, sondern ignoriert auch die komplexe Realität, der viele Führungskräfte und Einsatzkräfte täglich begegnen. Stress kann jeden treffen und entsteht häufig durch äußere Umstände, die wir nicht immer kontrollieren können.
Doch es gibt gute Nachrichten: Durch gezielte Maßnahmen lassen sich viele negative Stressoren minimieren. So bleiben wir langfristig professionell und gesund. Stressmanagement für Führungskräfte und Einsatzkräfte ist daher nicht nur eine Notwendigkeit, sondern eine echte Chance zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung.
Wer proaktiv Strategien zur Stressbewältigung entwickelt, steigert nicht nur die eigene Leistungsfähigkeit, sondern auch die des gesamten Teams. Genau das macht wahre Kompetenz aus: Nicht nur in der Ausbildung darüber reden, sondern es aktiv anwenden und vorleben. Das schafft eine Selbstverständlichkeit im professionellen Umgang mit negativem Stress. Dieser Effekt potenziert sich, je mehr Menschen bereit sind, sich der beruflichen Realität realistisch zu stellen.
Es liegt an Ihnen, hier proaktiv zu gestalten.
Quellen:
- Derks; Fischer: The role of emotion in the relationship between technology use and stress. Computers in Human Behavior. 2014.
- Kinnunen, et al.: Job insecurity and well-being: an analysis of the Finnish work environment. Journal of Occupational Health Psychology. 2016.
- Gallup: State of the Global Workplace Report. 2020.
- Gallup: Burnout in the Workplace: A Review of the Literature. 2021.
- Primack et al.: Social Media Use and Perceived Social Isolation Among Young Adults in the U.S. American Journal of Preventive Medicine. 2017.
- Kahn, et al.: Work-Life Balance and Stress: A Study of Employees in the United States. International Journal of Stress Management. 2019.
- American Psychological Association: Stress in America: A National Mental Health Crisis. 2020.
- Hakanen; Bakker; Schaufeli: Burnout and work engagement among teachers. Journal of School Psychology. 2006.
- Lazarus; Folkman: Stress, Appraisal, and Coping. 1984.
- Kabat-Zinn: Full Catastrophe Living: Using the Wisdom of Your Body and Mind to Face Stress, Pain, and Illness. 1990.
- Goleman; Boyatzis; McKee: The Emotionally Intelligent Manager: How to Develop and Use the Four Key Emotional Skills of Leadership. 2020.