„Liebes Tagebuch…“…ist wohl eher ein häufig bedientes Klischee. Doch im Leistungssport und Mentaltraining ist Tagebuch schreiben und Journaling längst Standard der Profis. Dieser Beitrag zeigt eine professionelle Praxis des Journalings, wie es umgesetzt wird, welche Ansätze es gibt, welche Fehler vermieden werden sollten.
TL;DR? Bottom line up first!
Journaling – handschriftlich, kurz, regelmäßig – ist das praktischste Instrument, um Selbstführung zu üben:
Keywords: Journaling, Selbstführung, Reflexion, Tagebuch, Microhabits. |
In der Praxis hat das handschriftliche Schreiben erwiesene psychologische Effekte. Der oft zitierte Satz „Wer schreibt, der bleibt“ fasst knapp, worauf es ankommt: Wer schreibt, schafft Spuren, die rückblickend beobachtbar, interpretierbar und beeinflussbar sind.
Für Selbstführung heißt das: Schreiben macht das Innere steuerbar statt nur erlebbar. Und es zeigt deutlich, dass mentales Durchgehen, Visualisieren und Reflektieren allein nur eine geringe Halbwertszeit haben. Wer kann sich schon daran erinnern, was er oder sie vor einer Woche gedacht hat?
Apropos Denken: das Verschriftlichen klappt auch bei Emotionen, nicht nur bei Gedanken. Wir holen das Nicht-physische durch Aufschreiben (Handlung) in die physische Welt, können es betrachten und darüber nachdenken. Oder wir spüren, welches Feedback in uns aufkommt, wenn wir schwarz auf weiß vor uns sehen, was uns umtreibt.
Themen werden verbindlich und nicht einfach irgendwo in den Kellern unseres mentalen Kellers verstaut. Es ist eine Praktik des aktiven Handelns, des Wollens, statt des Verdrängens.
„Du hast Macht über deinen Geist, nicht über äußere Ereignisse.“
Dem Kaiser des spätrömischen Reiches, Marcus Aurelius — stoischer Praktiker der Selbstführung – verdanken wir u.a. durch sein Werk Selbstbetrachtungen (ergo Selbstreflexion), ein zeitloses Zeugnis dafür, dass Journaling kein Selbstzweck ist. Das war und ist nicht das Ziel. Der antike „Philosophenkaiser“ zeigt uns durch seine Meditationen (lat. meditatio – nachsinnen/ nachdenken) ein klassisches Beispiel für tägliche Selbstreflexion als Haltung und Praktik: Notizen dienen der eigenen Haltungsschärfung, Distanzgewinn und mentalen Neuorientierung.
Die Fähigkeit des Sich-selbst-beobachten-könnens wird hier praktisch angewendet. Sie schafft Raum für Veränderung aber auch Stabilisierung. Wir können es gewissermaßen als Selbst-Coaching-Prozess begreifen.
Drei zentrale Wirkprinzipien
- Gedanken externalisieren und verlangsamen
- Niederschreiben verschafft Distanz zum Moment. Zuvor flüchtige Gedanken werden aus der Feldherren-Perspektive zu Objekten der Beobachtung. Dieser Verlangsamungseffekt ist besonders beim handschriftlichen Schreiben stark ausgeprägt. Handschrift verlangt motorische Kohärenz, reduziert Temposprüngen und bindet mehr Sinneskanäle als Tippen. Dies wiederum ist essentiell für unser Lernen!
- Beobachtbarkeit und Mustererkennung erhöhen
- Ein Journal ist ein persönliches Datenarchiv. Wer nach einer Woche, einem Monat oder Quartal zurückblättert, sieht wiederkehrende Themen, Trigger und Automatismen — etwas, das reines Erinnern kaum leisten kann. Das Wichtige: wir können nun erkennen, wie bestimmte Themen, aber auch unsere Gedanken und Emotionen zu diesen Themen auf unsere Handlungen wirken.
- Stressreduktion und Selbstfürsorge
- Schreiben über Gefühle und Belastungen reduziert physiologische Stressmarker und fördert die Emotionsverarbeitung. Insbesondere für die, die Supervision oder psychologische Beratung bräuchten, aber nicht haben, ist hier ein kleiner Step möglich. Es stigmatisiert nicht, kostet fast nichts, aber liefert sehr viel: Selbsterkenntnis und Handlungsspielraum. Es ist ein Ritual der Achtung vor sich selbst: Zeit nehmen, um den eigenen Zustand zu würdigen, wirkt präventiv gegen Erschöpfung. Präventiv und handlungsorientiert steht dabei als Kontrast zu klassischen Kompensations-Handlungen wie Alkohol und Netflix.
Verantwortung übernehmen: Journaling gegen kognitive Verzerrungen
Die beiden größten Gefahren für gute Selbstführung sind wohl der Negativity‑Bias und Confirmation-Bias. Also die kognitiven Verzerrungen, die uns Negatives eher und intensiver wahrnehmen lassen, und der Effekt, dass wir kognitiv dazu neigen, lieber Bekanntes und Vertrautes zu suchen/ zu bestätigen. Evolutionär oft sinnvoll, keine Frage. Aber wirkliche Gefahren sind heute selten geworden. Zusammen potenzieren sich die Effekte zu einer tödlichen Kombination: Wir fokussieren negative „Sensationen“, übersehen dabei das Positive und sehen dafür in jeder negativ gewerteten Situation eine Bestätigung des ohnehin negativen Bildes. Eine Abwärtsspirale. Journaling wirkt dem entgegen, weil es:
- negative Erlebnisse relativiert, wenn positive Aspekte systematisch festgehalten werden („hunt for the good stuff“),
- Hypothesen zwingt, dokumentiert zu werden, womit selektive Wahrnehmung überprüfbar wird.
Zahlreiche Coaching- oder Therapie-Sitzungen könnten erspart bleiben, wenn wir anfangen den mentalen Zinses-Zins für uns zu nutzen.
Kleine tägliche Microhabits (z. B. 5 Minuten) unterbrechen den Autopiloten, schaffen eine datenbasierte Basis, um die eigenen Deutungsmuster zu hinterfragen und korrigierbare Experimente zu planen. Es ist die Basis für jegliche Form der bewussten mentalen Beeinflussung.
Reflexions-Burnout & Journaling-Overkill vermeiden
Einer der größten Fehler im Erlernen der Selbstführung ist Das-zu-viel-wollen. Es geht wie im Sport nicht darum die Systeme einmalig völlig zu erschöpfen, sondern um einen kleinen, ausreichenden Impuls/ Trainingsreiz, um stärkende und Zweckmäßige Abläufe zu festigen.
Daher mein Ansatz: das 5‑Minuten‑Protokoll – täglich, fokussiert, handgeschrieben.
Drei präzise Fragen, immer dieselbe Reihenfolge:
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Warum so kurz? Forschung zum Expressive Writing zeigt: bereits kurze, konsistente Sessions erzeugen messbare Effekte auf Stimmung und Problemlösefähigkeit. Wie in jedem Training: Kontinuität ist der Hebel, nicht Länge. Kein Reflexions-Burnout, kein Journaling-Overkill!
Andere Ansätze: mögliche Stilvarianten
Wer sich selbst genug führen kann und mehr als nur tägliche 5 Minuten Selbstreflexion will, kann weitere Formate probieren. Neben dem klassischen Fließtext in Aufsatzform sind folgende 3 Ansätze üblich:
- Reflexions‑Kurzform (täglich, 5 Min): 3 eigene Fragen (Beispiel siehe oben). Das Einfache hat Bestand.
- Experimentprotokoll (bei Entscheidungen): Hypothese; Test; Messgröße; Ergebnis (15–30 Min).
- Narrativ‑Audit (monatlich, 45–60 Min): 300–500 Worte zur Frage „Wie habe ich mich geführt?“; Brüche markieren.
Warum das Schreiben mit der Hand mehr bewirkt
Empirische Befunde zeigen, dass handschriftliches Notieren kognitive Prozesse anders stimuliert als Tippen. Handschrift verlangsamt. Es zwingt zur Reduktion auf Wesentliches und aktiviert visuell‑motorische Rückkoppelungen, die Erinnerbarkeit und tieferes Verstehen fördern. Die berühmte Studie von Mueller & Oppenheimer (2014) etwa dokumentiert, dass handschriftliche Notizen das Verständnis und die langfristige Speicherung von Inhalten verbessern — Effekte, die sich unmittelbar auf das Journaling übertragen lassen: handschriftliche Einträge sind reichere Datenquellen für spätere Musteranalysen.

Selbstcoaching und Selbstsupervision mittels Journal
„Write hard and clear about what hurts“
– Ernest Hemingway
Journaling ist mehr als Emotionsentsorgung. Wer das Journal als Selbstcoaching‑Werkzeug nutzt, dann werden Einträge zu Experimentprotokollen:
- Hypothese formulieren (z. B. „Wenn ich vor Meetings Box-Breathing mache, reagiere ich weniger impulsiv.“),
- Intervention durchführen und messen (Subjektive Skala, kurze Körpernotiz),
- Ergebnis notieren, Lessons learned ableiten.
So wird das Journal zum persönlichen Forschungsarchiv, das Selbstführung systematisch stärkt und präventive Kultur unterstützt.
Aber immer das entscheidende beachtend: Einfachheit – Zweckmäßigkeit – Hochfrequenz!
Fazit: Bewusstsein als Voraussetzung für Selbstführung
Selbstführung ist die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten, zu interpretieren und zu steuern. Journaling macht die innere Beobachtung möglich, weil es Denken in die sichtbare Welt holt, Denkprozesse verlangsamt, dokumentiert und als Grundlage für kleine, testbare Verhaltensänderungen nutzbar macht. Journaling verschiebt die Balance vom Autopiloten ins Bewusstsein. Und das nicht nur mit Gedanken, sondern auch mit unseren Gefühlen und unserer Haltung aus der wir agieren. Wir nehmen uns Zeit und kritisch zu betrachten.
Journaling ist wie ein Labor für unser Inneres — mit Hypothesen, Messungen und klaren Tests. Führung, die aus klarer Selbsterkenntnis erwächst, ist nachhaltiger und weniger ressourcenintensiv als permanente externe Optimierung. Täglich 5 Minuten konstant und zielgerichtetes Schreiben, bringt mehr als einmal einen Tag Perfomance-Coaching.
Die Wellen des eigenen kleinen Aufwands summieren sich zu stabiler Führung – deiner Selbstführung.
Quellen
Balz, H.‑J., & Kotala, K. (2023). Ergebnisbericht Interviewstudie: Selbstführung bei Führungskräften in sozialwirtschaftlichen Organisationen. Evangelische Hochschule Bochum. https://kidoks.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/4555/file/Ergebnisbericht_Interviewstudie_Selbstfuehrung.pdf
Gundrum, E., Weiß, S., Külling, C., Lutterbach, S., & Frigg, D. (2020). Trendstudie: Selbstführung in selbst‑organisierten Arbeitskontexten. Institut für Angewandte Psychologie (IAP), ZHAW. https://www.zhaw.ch/iap
Hüther, G. (2015). Die Macht der inneren Bilder: Wie Visionen das Gehirn, den Menschen und die Welt verändern. Vandenhoeck & Ruprecht.
Krampitz, J. (2023). Selbstführung: Wirksamkeit von Interventionen auf Selbstführungskompetenzen und Erholungsfähigkeit (Dissertation, Universität Innsbruck). ULB Tirol. https://ulbtirolhs.ac.at
Mueller, P. A., & Oppenheimer, D. M. (2014). The pen is mightier than the keyboard: Advantages of longhand over laptop note taking. Psychological Science, 25(6), 1159–1168.
Pennebaker, J. W., & Smyth, J. M. (2016). Opening up by writing it down: How expressive writing improves health and eases emotional pain (3rd ed.). Guilford Press.
Smyth, J. M. (1998). Written emotional expression: Effect sizes, outcome types, and moderating variables. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 66(1), 174–184. https://doi.org/10.1037/0022-006X.66.1.174